Über den Raum zwischen den Sätzen schreibt Proust: "Zwischen den
Sätzen, in den Intervallen, die sie voneinander trennen, hält sich
noch heute wie in einer unversehrter Totengruft ein oft
vielhunderjähriges Schweigen, das die Zwischenräume ausfüllt.”
(Marcel Proust – Tage des Lesens – S.55)
Meistens
ist das Ziel eines Essays die Aufdeckung einer Frage oder
Merkwürdigkeit. Das spannende an einem Essay sind die Sätze, die
einen überraschen und dich zu alten und beiseite gelassenen Ideen
zurückführen. In einem Text, so kurz wie ein Essay, könnte man
eine handvoll Sätze finden, die wahrscheinlich nicht der Kern des
Textes, aber einige seiner Wendepunkte sind.
An
diesem Satz von Proust hat mich besonders der musikalische Inhalt
seiner Idee interessiert. Die Stille, verstanden nicht als
Abwesenheit, sondern als Metainhalt, ist fast unbemerkbar, aber
notwendigerweise anwesend. Der Raum zwischen den Sätzen ist der
Rhythmus des Schriftstellers: Seine Atmung und seine Augen, die nach
einem Satz und vor dem nächsten durchs Fenster nach draußen
schauen. Es ist nicht nur die Atmung des Schriftstellers, sondern
nach Proust noch mehr: “Oft habe ich im Lukasevangelium, wenn ich
auf die Doppelpunkte traf, die es vor jeder der zahlreichen Stellen
unterbrechen, die fast die Form eines Lobgesanges haben, das
Schweigen des Gläubigen gehört, der sein lautes Lesen unterbrach,
um dann die folgende Strophe anzustimmen wie einen Psalm, der ihn an
die älteren Psalmen der Bibel erinnerte.” (Marcel Proust – Tage
des Lesens – S.55)
Zwischen
den Sätzen versteckt sich auch der Rhythmus der Figuren eines Textes
und hier finden wir eine zweite rhythmische Ebene. Solange der
Schriftsteller eine Figur erschafft, erlaubt er ihr einen eigenen
Rhythmus und eigene Pausen zu haben. In einem Text fügen sich zwei
rhythmische Ebenen ineinander, die sich fortwährend, beim Lesen, aufeinander beziehen, also ein literarischer Kontrapunkt.
Die
Rolle des Lesers ist das, was mich interessiert. Wenn man sich zur
Beschäftigung mit den Takten eines Buches entschließt, entscheidet
man sich auch für einen Puls, ein Tempo, mit welchem man als Leser
dem Text seine eigene Art und Weise gibt. Aus diesem Grund reicht es
nicht aus, über die rhythmische Ebene eines Texte zu sprechen,
sondern wir sollten auch den Puls des Lesers beachten. Wenn wir zum
Beispiel ein Drama lesen, nehmen wir es nicht unbedingt als Drama
war, dadurch können rhythmische Risse entstehen, weil der Leser den
Text anders interpretieren könnte. In dem Selbstgespräch von Molly
Bloom scheint es keine Bewegung zu geben und daher auch keinen
Rhythmus, sondern es gibt einen „statischen Rhythmus“,
Kein-Rhythmus. Das heißt, dass der Charakter uns zu einer
statischen Fläche führt, die sich unbeweglich und verstaubt in
einem denkenden Kopf abspielt und er gibt, durch die Introspektion,
unserem Lesen eine gleichbleibende Geschwindigkeit.
Das
ist ein Beispiel, in welchem der Rhythmus des Schriftstellers sich
über den Rhythmus der Figur hinwegsetzen muss, nicht für den
Verfall der Psychologie der Figur (denn gäbe man der Frau von Bloom
Satzzeichen, würden ihre Gedanken zerfallen), sondern aufgrund der
Art des Lesens. Es scheint, als ob Molly den Leser und seinen Puls zu
keinem Ziel führt und trotzdem nimmt der Leser eine Zukunft war.
Deswegen liest er weiter. Dieses Gefühl von Zukunft entsteht aus dem
perkussiven Material, dem Wort „ja“, welches in dem Text in
verschiedenen Frequenzen eingefügt wurde. Das „ja“, diese
Betonung in den Überlegungen dieser Frau, die auf ihren Mann wartet,
geben dem starren Text Bewegung. Es sind Zensuren, Atmung und Ordnung
des Gedächtnisses der Figur, die dem Leser gleichzeitig erlauben
dem Text eine Form zu geben. Lass uns sagen, dass das optimistische
Material „ja“ uns bis zu einem Ende schleppt und dem
introspektiven Selbstgespräch von Molly das gibt, was der Leser
sucht: Endlichkeit.
Wiederum
führt uns Arnold Schmidt, mit seinem Werk „ Zetell’s Traum“, zu einem anderen Universum, wo die Räume zwischen den Sätzen in den
Randnotizen ausgebreitet sind, da für Schmidt bestimmte Wörter und
deren Kombination in sich eine Bedeutung haben, eine klangvolle
Bedeutung. Wenn der Schriftsteller einen von diesen Räumen findet,
leert er durch die Notizen den implizierten Inhalt bewusst aus.
Möglicherweise beabsichtigte Arnold Schmidt eine „Partitur“ zu
schreiben, in welcher sowohl Charakter als auch akustisches Phänomen
notiert sind. Ein Text, in welchem sowohl das Geschriebene als auch
das, was erklingt (die Zwischenräume über die uns Proust erzählte),
erscheint.
Jetzt
komme ich zu dem Punkt, wo meine Meinung hervortritt: Die
Interpretation ist der letzte Schritt einer Komposition: Die Klänge,
die Wörter oder die Ideen zwischen den Räumen, die der Zuhörer
oder Leser retten, erfinden oder komponieren könnte. Es ist der
Umhang des Anscheins, der das Werk bedeckt, gekleidet mit den
Wünschen des Lesers (eines lesenden Publikums). Sei es Endlichkeit,
Ganzheit oder ein Programm was es sucht.
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